Erfahrungen mit Corona

Von der Lebenskunst in Krisenzeiten

Wilhelm Schmid

Darauf waren wir nicht gefasst, es hat uns in der ersten Hitze des Jahres eiskalt erwischt. Es war auf einer Reise durch Andalusien, letzte Station Ronda, herrlicher Ort in den Bergen nahe Malaga. Wir schlenderten durch die schöne Altstadt und wollten erkunden, wo wir zu Abend essen können. Als wir vor einem Restaurant standen, begannen die Mitarbeiter, unter blauem Himmel Stühle und Tische von der Terrasse wegzutragen. Eine Entscheidung der Regierung, sagten sie, für die nächsten zwei Wochen muss alles geschlossen werden, wegen Corona. Wir hatten von diesem Virus gehört und gelesen, aber nicht mitbekommen, wie rasend schnell es die Runde durch Europa machte.

Der Schock saß. Was jetzt? Erster Gedanke: Woher bekommen wir noch etwas zu essen? Nicht nur jetzt, sondern auch morgen? Kleine Lebensmittelläden waren noch geöffnet und wir deckten uns sofort mit dem Nötigsten ein, Brot, Käse, Oliven. Auch eine Flasche Rotwein? Fragte meine Frau. Mir war nicht danach. Was konnte jetzt noch Lebenskunst sein? Aber hatte ich nicht immer schon darauf hingewiesen, dass sie nicht nur für schöne Zeiten, sondern fast mehr noch für schwierige Zeiten da ist? Lebenskunst also jetzt: Für die Lebensgrundlagen zu sorgen, uns um die Rückreise zu kümmern, weil das Hotel schon morgen schließen musste, aber auch, weil wir uns plötzlich fremd fühlten und in die vertraute Heimat wollten, dorthin, wo wir uns auskennen, Familie und Freunde haben und nicht unerwünscht sind. Und die andere Seite der Lebenskunst auch jetzt: Füreinander da zu sein und das Zusammensein trotz allem zu feiern.

Die Unruhe war groß und, ja, auch die Angst. Ein Gefühl von Unheimlichkeit machte sich breit. Wo ist das Leben jetzt noch sicher? Ängstliche Sorge ist der Anfang der Lebenskunst, wenn möglichst bald eine kluge Sorge daraus wird. Ängste bezogen sich vor Corona darauf, etwas zu verpassen, auf irgendeiner Party nicht dabei zu sein. Mit einem Mal gab es nichts mehr zu verpassen. Ängste verengten sich zur Angst um das Leben, das eigene und das Anderer. Um klüger zu werden, ist Wissen nötig. Für Wissen sind verlässliche Informationen erforderlich. Die waren in dieser Krise vor allem von den bewährten Medien zu haben, die noch in der Lage sind, zu recherchieren und Informationen zu prüfen, während im Internet rasch alle möglichen Irreführungen viral gingen, etwa dass es sich nur um eine „leichte Grippe“ handle. Die in manchen Ländern oft belächelte German Angst erwies sich als guter Ratgeber, besser als bodenloser Leichtsinn und das Leugnen von Problemen.

Wichtig für die kluge Sorge ist die Bereitschaft, sich zügig auf die neue Situation einzustellen und nicht lange dem vorherigen „alten“ Leben nachzutrauern. Das hat viel mit der grundsätzlichen Auffassung zu tun, was Leben ist. Das Leben ist zerbrechlich, das hat die Coronakrise drastisch vor Augen geführt. Für Menschen, die die Erfahrung einer Krankheit kennen, ist das nicht neu, dass augenblicklich alles ganz anders sein kann. Die Krise zeigt, dass jede Gewissheit über Nacht wegbrechen kann. Dass auch das scheinbar sichere Leben im Wohlstand sehr verletzlich ist. Dass es nicht selbstverständlich ist, dass alles gut funktioniert. Dass etwas Schlimmes geschehen kann, das nicht mehr revidierbar ist. Dass das Leben „schicksalhaft“ sein kann, wie dies einst genannt wurde. Dass sich das auch durch ein noch so angestrengtes Positivdenken nicht ändern lässt. Dass es eine gute Alternative wäre, realistisch zu denken und auch negative Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen, um frühzeitig Schlüsse daraus zu ziehen.

Niemand war glücklich mit der Situation, viele zutiefst unglücklich. Das Glück trat in all seinen Varianten in Erscheinung. Das Zufallsglück kann nicht nur ein glückliches, sondern auch ein unglückliches sein. Niemand hatte dieses Virus auf dem Plan, außer Virologen, die schon Jahre zuvor vor einem Virus X gewarnt hatten, das zu einer Pandemie führen würde, aber das hielt auch ich für übertrieben. Das Wohlfühlglück spielte jetzt nur noch zwischen vier Wänden eine Rolle, wenn überhaupt. Lebenskrisen und jetzt die Coronakrise belehren uns, dass das Glück wankelmütig ist. Glück kann schon aus diesem Grund nicht das Wichtigste im Leben sein. Als wichtiger und haltbarer erweist sich der Sinn, und zwar auf allen Ebenen, auf denen er zur Verfügung steht, wenn Menschen bereit sind, ihn zu pflegen.

Sinn ist zuallererst sinnlicher Sinn, das war mehr als sonst im Coronafrühjahr erfahrbar. Der Frühling war früh da, es hätte auch finsterer Winter sein können, das hätte vieles erschwert. So aber flutete das Licht, frisches Grün brach aus kahlen Ästen hervor, farbenfrohe Blüten überall, der Sinn des Lebens stand nicht grundsätzlich in Frage. Klarer als zuvor wurde jetzt auch für viele, welche Bedeutung die sinnliche Berührung fürs Leben hat. Berührung macht gelassener. Die Hand eines anderen Menschen halten zu dürfen. Sich körperlich nahe sein zu können. Jede und jeder weiß, wie eine Umarmung wirkt, die willkommen ist, nicht nur zwischen Liebenden, sondern auch zwischen Freunden, auch zwischen Eltern und Kindern, Großeltern und Enkeln. Die Coronazeit wird uns in Erinnerung bleiben als die Zeit, in der es manchmal schmerzlich an Berührung fehlte. Wir sollten es daran nicht mehr fehlen lassen.

Wie wichtig Bewegung ist, machten die erhofften, auch befürchteten Einschränkungen der Bewegungsfreiheit plötzlich deutlich. In der Einschränkung wird ein Sehnsuchtsgut daraus. Kranke und Menschen mit Behinderungen wissen das zu jeder Zeit, alle Anderen werden es lange nicht vergessen. Was für ein Genuss, jederzeit überallhin gehen zu können! Es waren vor allem die Einschränkungen dieser Freiheit, bei der sehr bald die Interessen kollidierten. Die Verletzung von Grundrechten wurde beklagt, aber erstaunlich oft war dabei keine Rede vom Grundrecht auf Leben (Artikel 2 Grundgesetz), das doch wohl Vorrang haben darf, schon aus rein praktischen Gründen: Wer kann ein Grundrecht, welcher Art auch immer, in Anspruch nehmen, wenn das dafür erforderliche Leben weg ist? Das Grundrecht auf Leben zu relativieren fällt nur dem leicht, für den das Leben nicht in Frage steht. Aktuell. Der aber, dessen Leben bedroht ist, sieht seine Menschenwürde (Artikel 1 Grundgesetz) missachtet von allen, die keine Sorge dafür tragen, ihn vor einer eventuellen Ansteckung zu schützen.

Vor allem Beziehungen erwiesen ihre Bedeutung für das Leben und die Erfahrung von Sinn. Seelischer Sinn ergibt sich daraus, jemanden an der Seite zu haben, Freunde kontaktieren zu können, Nachbarschaftshilfe zu bekommen, Kollegen zumindest über den Bildschirm zu sprechen. Viele stellten erst im Homeoffice fest, wie wichtig ihnen der direkte Austausch ist, der Plausch mit den Kollegen von Angesicht zu Angesicht. In der großen Verunsicherung zeigte sich, wieviel Sinn im Leben wir der Familie, den Freunden, Nachbarn und Kollegen verdanken. Die schnelle Kontaktanbahnung mit Apps wie „Tinder“ mag Abwechslung ins Leben bringen, aber es sind die verlässlichen Beziehungen zu Anderen, die dafür sorgen, nicht einsam zu sein, wenn das Leben schwierig wird.

Neben der Wiederentdeckung analoger Dinge zeigte sich auch Zweiflern wie mir, wie hilfreich die Digitalisierung ist, die ohne direktes Zusammensein Nähe und Austausch ermöglicht. Corona erzwingt einen überfälligen Modernisierungsschub. Die Erfahrung wird Bestand haben, dass Schulunterricht, Studium, Konferenzen, flexibles Arbeiten, Konzerte, Ausstellungsbesuche zumindest zum Teil auch von zuhause aus möglich sind. Ratsam wird dennoch sein, es damit nicht zu übertreiben, sonst ist absehbar, dass nach dem Coronavirus irgendwann digitale Viren das gesamte Leben lahmlegen werden. Dann würde ausschließlich das analoge Leben übrigbleiben und alles, was sich jetzt digital regeln lässt, entfiele ersatzlos, Internetbestellungen, Lieferketten von Lebensmitteln, Elektrizität, Ampelschaltungen, bargeldlose Bezahlung, Bankautomaten. Eine absolute Absicherung dagegen gibt es auch bei digitalen Viren nicht. Werden wir klug genug sein, uns diese Erfahrung zu ersparen?


Wilhelm Schmid, geb. 1953, lebt als freier Philosoph in Berlin. Er lehrte bis zur Altersgrenze Philosophie an der Universität Erfurt. www.lebenskunstphilosophie.de. Neuere Bücher: Von der Kraft der Berührung, 2019, Selbstfreundschaft, 2018, Gelassenheit, 2014 (alle im Insel Verlag).


Der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Schmid war im November 2017 bei uns zu Gast. Mit Herrn Karl-Heinz Pastoors, Vorsitzender der Kreisseniorenrats unterhielt er sich zu dem Thema: „Mit sich selbst befreundet sein“.

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