Riskante Alte

Interview mit Frau Prof. Dr. Annelie Keil

Prof. Dr. Annelie Keil (Bremen)

Interview mit Chefredakteurin Silke Hellwig für den „Weserkurier“ (Bremen-)in leicht verkürzter Form erschienen am 25. April 2020 unter dem Titel: Risikogruppen: wie Seniorinnen und Senioren mit der empfohlenen Isolation umgehen

„Die Fürsorge darf nicht in Kontrolle umschlagen“

Frau Keil, Sie gehören im Grunde mehrfach zur Risikogruppe, für die das Virus eventuell lebensbedrohlich werden könnte. Was bedeutet das für Sie?

Annelie Keil: Ich bin eine riskante Alte, aber im Großen und Ganzen stabil, vergnügt und natürlich auch besorgt. Ich bin 81 Jahre alt und habe alle notwendigen Vorerkrankungen: Krebs, Herzinfarkt, Diabetes, eine akute Arthrose, außerdem lebe ich alleine.

Das ist ein Risikofaktor?

Das ist insofern ein Risikofaktor, da es bei vielen Menschen, ob alt oder krank, durch Corona einen dramatischen Autonomieeinbruch, vor allem eine angstbesetzte Verunsicherung gibt. Daraus leitet sich die Frage ab, welche Art von Zuwendung oder Hilfe brauche ich und welche ich selbst leisten kann, für den Nachbarn, in der Ehe oder anderen Bezügen. Es ist wichtig, dass die Hilfe auf Augenhöhe geleistet wird und dass man sie auch ablehnen oder verändern kann. Wenn über häusliche Gewalt, zunehmende Aggression und kontrollierende Übergriffe geredet wird, die das enge Aufeinander Hocken und zunehmende Abhängigkeit provozieren kann, geht es nicht nur um Frauen und Kinder, sondern auch um alte Menschen. Es darf nicht sein, dass Sorge und Fürsorge in Kontrolle, Respektlosigkeit und Diskriminierung ausarten. Um der Gesundheit willen braucht es Selbst- und Mitbestimmung, das ist ihr Kern.

Sie haben dem Bürgermeister Bremens einen Brief geschrieben. Darin schreiben Sie: "Wir ,riskanten Alten' werden uns nicht mehr behütet, sondern vielleicht ausgegrenzter als bisher fühlen, wenn wir uns nicht auf Augenhöhe mit unseren Angehörigen und Helfern im Kontext unserer Lebenserfahrungen, eigener Vorstellungen und biografischer Expertise an der Bewältigung der gegenwärtigen Krise beteiligen können, sondern unter besonderen Artenschutz gestellt werden."

Was in der bisherigen Debatte und immer noch weitgehend vergessen wird, sind die Kompetenzen der Menschen, die sich als Risikogruppen freiwillig komplett isolieren oder auf soziale Distanz gehen sollen. Dabei haben ältere Menschen ein großes Wissen darin, wie man Krisen, Krankheiten und Katastrophen bewältigt, durchsteht und wie mit weniger durchs Leben kommt. Das gilt vor allem für die Kriegskindergeneration. Sie wissen, dass man notfalls Zeitungspapier als Toilettenpapier benutzen kann und wie man sich beim Kochen behilft, wenn bestimmte Zutaten fehlen. Die Betagten haben in schweren Zeiten die subjektive Kompetenz erworben, gewissermaßen zu improvisieren, weiterleben zu wollen, zu können und nicht nur zu müssen. Viele erleben „soziale Quarantänen“ ganz anderer Art.

Hat Herr Bovenschulte reagiert?

Nein, das habe ich auch nicht erwartet, angesichts der täglichen Arbeits- und Entscheidungssituation im Amt. Aber ich weiß, dass er ihn gelesen hat und sich Gedanken macht.

Leiten Sie aus dem Brief Forderungen oder Wünsche ab?

Eines vorweg: Ich weiß es nicht besser, und ich habe den Eindruck, dass die Verantwortlichen ihr Geschäft gut erledigen. Aber ich wünsche mir, dass man in gewissen Personengruppen nicht nur ein Risiko für sich und andere sieht, sondern ihnen und ihren Bedürfnissen Beachtung schenkt und sie und ihre „Experten“ in den weiteren Diskurs einbezieht. Auch als alter Mensch möchte ich beteiligt werden, mich mit meinen Angehörigen und Freunden einbringen, vielleicht könnte ich Jüngeren gerade wegen meines Alters im Umgang mit Krisen sogar etwas voraushaben. Aber auch Alte müssen dazulernen, Trotz und Rechthaberei hilft auch nicht weiter.

Es geht nicht nur darum, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, sondern auch für die Gemeinschaft und die Ressourcen des Gesundheitssystems.

Das ist richtig. Aber wir sehen, wie weit die Verunsicherung und eingeforderte Verantwortung geht, nämlich bis zur Selbstdiskriminierung: Die Ärzte und Krankenhäuser klagen, dass die Patienten wegbleiben, die regelmäßiger Behandlung bedürfen. Die alten Menschen fühlen sich durch angstmachende, einseitige Corona-Sorge letztlich dazu getrieben, ihre Vorerkrankungen nicht so behandeln zu lassen wie es nötig wäre. Sie sitzen zu Hause und fürchten sich und leiden. Das ist unnötig grausam und keine beschützende Maßnahme.

Man kann auch an Einsamkeit sterben?

Allerdings. Auch deshalb kann die Antwort auf die gesundheitliche Bedrohung durch das Virus eben nicht sein, Menschen ab 65 Jahren unterschiedslos die Eigenverantwortung abzunehmen. Sie sollen Abstand halten, sie sollen Gedränge vermeiden, meinetwegen sollen sie auch einen Mundschutz tragen. Für manche aber ist der selbstständige Einkauf oder der Besuch eines Angehörigen, der Höhepunkt des Tages, ein Weg aus der sozialen Isolation und wenn Sie so wollen, eine gewollte lebensverlängernde Maßnahme. Das kann man niemandem einfach wegnehmen. Und wenn man es tut, hat es ebenfalls gesundheitliche Folgen. Todesangst ist kein Heilmittel, so viel steht fest. Und die ständige Drohung damit auf allen medialen Kanälen unangemessen.

Hat man das Recht, selbst zu entscheiden, welches Infektionsrisiko man eingeht?

Das Recht hat man, aber es ist mit einer Pflicht anderen gegenüber verknüpft, das gilt nicht nur für eine Infektion mit Corona, sondern auch sonst im Leben, und zwar für alle Altersklassen und Gesundheitsgrade. Es ist nicht egal, ob ich mich anstecke, weil ich dadurch andere Menschen in Gefahr bringe. Aber das berechtigt nicht zur Ausgrenzung und Diskriminierung, und ich lehne es ab, das Alter selbst als eine Art Vorerkrankung anzusehen. Unter den Todesopfern sind viele alte Menschen, aber niemand weiß, wer mit oder an Covid-19 gestorben ist. Für alte Menschen ist jede Lungenentzündung gefährlich, kann jede Erkältung dramatische Folgen haben. Und jede Vorerkrankung kann lebensgefährlich sein. Der Tod braucht keine Begründung.

Wie erklären Sie sich, dass alte und durch Vorerkrankungen beeinträchtigte Menschen als Risikogruppe bezeichnet und angesehen werden?

Ich kann mir vorstellen, dass der Expertenstab, der in aller Eile zusammengestellt werden musste, noch nicht so aussieht, wie er aussehen sollte. Gerontologen mit ihren hervorragenden Expertisen müssen beteiligt werden, Psychologen, Sozialarbeiter, Erzieherinnen, Pflege- und Gesundheitswissenschaftler, vor allem unsere Hausärzte, auch Mütter und Väter, die wissen, was Schul- und Büroschließungen konkret bedeuten. Nach der radikalen Alarmphase, die auf Kontrolle und Disziplin setzte und die so sicher nötig war, muss jetzt eine sehr differenzierte Betrachtung und Beratung, die auf komplexe Mitbestimmung setzt, folgen. Und dazu gehört auch die Frage: Was gehört unabdingbar zur Gesundheit, außer der körperlichen. Was ist mit der seelischen, geistigen und sozialen Verfassung? Wie werden die Menschen mit der Isolation fertig und mit Kontrolle? Wie sehen die Zeitfenster sein?

Wie lebt es sich für Sie in weitgehender Isolation?   

Es ist schon eine große Umstellung. Meine gesamten Arbeitsaufträge für dieses Jahr sind weggefallen, keine Vorträge und Seminare, mancher meiner Auftraggeber sind von Insolvenz bedroht. Momentan kann ich wegen einer akuten Arthrose auch nicht schreiben und muss sehen, wie ich damit klarkomme und wie ich andere Wege finde, um mich einzubringen. Aber ich habe Glück, ich bin online vernetzt und unterwegs, viele andere in meinem Alter sind es nicht. Das ist eine meiner Hoffnungen: Dass es einen Digitalisierungsschub gibt, der sich nicht nur auf Schulen bezieht, sondern vor allem auch auf ältere Menschen, um sich auch auf diesem Weg aus ihrer Isolation zu befreien.

Menschen fürchten sich vor einer Infektion. Wovor fürchten Sie sich?

Ich fürchte mich vor einer Gesundheitsüberwachung, die allein die körperliche Unversehrtheit zum höchsten Gebot erklärt. Ich fürchte nicht den Tod, der steht im höheren Alter immer an unserer Seite, aber ich möchte nicht auf der Intensivstation in einem sogenannten Corona-Bett sterben, wenn dort zurzeit die palliative Betreuung auf der Strecke bleibt. Wenn man sich aus dem Leben verabschiedet, möchte man vielleicht, dass man nicht allein ist, dass jemand die Hand hält, dass man noch besprechen kann, was auf dem Herzen liegt. Alles das ist momentan nicht so möglich wie es sein müsste und könnte. Genau dafür habe ich die letzten Jahre im Bereich der Palliativ- und Hospizarbeit gekämpft. Ich wünsche mir, dass wir auch in Corona Zeiten die Liebe zum gefährdeten Leben nicht verlieren.


Prof. Dr. Annelie Keil war im November 2019 beim Hospiz-Dienst zu Gast. Sie sprach zu dem Thema „Die Pause zwischen Geburt und Tod heißt Leben.“

Kontakt

Hospiz-Dienst Schwäbisch Hall e.V.
Brückenhof 6/1
74523 Schwäbisch Hall

Öffnungszeiten

Mo. und Mi. 10 - 14 Uhr
und Termine nach Vereinbarung

  0791 - 9 46 36 44
  0163 - 874 82 65

hospizdienst-schwaebisch-hall­@­t-online.de


Impressum - Datenschutz

Spendenkonto

Sparkasse Schwäbisch Hall-Crailsheim
IBAN  DE52 6225 0030 0005 4158 58
BICSOLADES1SHA
Volksbank Schwäbisch-Crailsheim
IBAN  DE15 6229 0110 0158 1450 03
BICGENODES1SHA

 

Weitere Hilfen