Ein Geben und Nehmen

Organspende

Haller Tagblatt am Freitag, den 12.Oktober 2018

Dr. Wolfgang Ullrich ist der Transplantationsbeauftragte am Diak. Der Oberarzt will, dass das Thema mehr Normalität erfährt. Von Marcus Haas

Wann ist der Mensch tot, und wann können Organe entnommen werden?

Wolfgang Ullrich: Als Intensivmediziner unterscheide ich zwei Dinge. Es gibt sichere und sichtbare Todesmerkmale wie Leichenflecken und Todesstarre. Ein gleichwertiges Kriterium ist der Hirntod, der nicht zu sehen ist, sondern mit Untersuchungen nachgewiesen werden muss. Die Feststellung des unumkehrbaren Ausfalls der gesamten Hirnfunktionen ist eine Voraussetzung dafür, dass Organe entnommen werden können.

Wie ist Organspende am Diak geregelt?

Wenn die Voraussetzungen stimmen und die Einwilligung zur Organspende vorliegt, werden am Diak Organe von hirntoten Spendern entnommen.

Schwerer Verkehrsunfall: Ein lebensgefährlich verletzter kommt auf die Intensivstation am Diak. Was läuft mit Blick auf eine mögliche Organspende ab?

Ich bin seit 2006 der Transplantationsbeauftragte am Diak. Eine meiner Aufgaben besteht darin, mögliche Organspender auf der Intensivstation zu erkennen und diese an die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) zu melden, die Koordinationsstelle für Organspenden. Wenn ich vermute, dass der lebensgefährlich Verletzte den Hirntod erleidet, dann leite ich die entsprechende Diagnostik in die Wege.

Wer diagnostiziert den Hirntod?

Den Nachweis übernehmen nach einem festen Protokoll zwei in der Intensivmedizin erfahrene Ärzte, von denen einer ein Neurologe/Neurochirurg und im Fall von Kindern ein Neuropädiater sein muss. Keiner der Ärzte darf der Transplantationsmedizin angehörigen. Vorab müssen jedoch alle anderen Faktoren ausgeschlossen werden wie Vergiftung, Unterkühlung oder Einfluss von Medikamenten.

Wie wird der Hirntod festgestellt?

Nach einem festen Untersuchungsschema vergewissern sich die Ärzte, dass alle Hirnfunktionen ausgefallen sind. Zum Beispiel gibt es keine Pupillenreaktion mehr auf Licht. Ein wesentlicher Teil ist die Atmung. Es wird untersucht, ob der Schwerstverletzte keinen eigenen Atemantrieb mehr hat. Er wird vom Beatmungsgerät genommen um zu kontrollieren, ob die Atmung wieder einsetzt. Wenn der Hirntod zweifelsfrei festgestellt ist, dann ist das der Todeszeitpunkt.

Wann sprechen Sie mit Angehörigen zum Thema Organspende?

Spätestens nach der Feststellung des Hirntods. Die häufigste Variante sind schwierige Gespräche mit der Familie, die oft von Trauer und Überforderung geprägt sind. Ich versuche die Position des Patienten zum Thema Organspende über die Angehörigen herauszubekommen. Entscheidend ist der mutmaßliche Wille des Patienten. Wenn religiöse Themen angesprochen werden, kommt ein Seelsorger dazu.

Wo ist der Hirntote in der Zeit zwischen Diagnose und Entscheidung, ob Organe entnommen werden?

Auf der Intensivstation, am Beatmungsgerät angeschlossen. Vitalfunktionen, wie Kreislauf und Temperatur werden aufrechterhalten, damit Organe in ihrer Funktion erhalten bleiben.

Wie häufig ist ein Organspenderausweis oder ein anderer Nachweis vorhanden?

Sehr selten.

Was ist, wenn der Hirntote einen Ausweis hat, die Angehörigen aber gegen Organspende sind?

Dann bieten wir weitere Gespräche an, um eine Einigung zu erzielen. Aber klar ist: Gegen den Willen der Familie wird in Deutschland niemand eine Organentnahme vornehmen.

Die Angehörigen sind mit der Organspende einverstanden: Wie geht es weiter?

Das Gespräch wird dokumentiert. Ich nehme Kontakt mit der DSO auf, die prüft, welche Organe und welches Gewebe für eine mögliche Transplantation geeignet sind. Fachleute klären medizinische Fragen wie zurückliegende Erkrankungen des möglichen Spenders und Auswirkungen auf die Organe. Die DSO kontaktiert Eurotransplant, die die Vergabe der Spenderorgane regelt, und übermittelt medizinische Daten des Spenders.

Was ist Eurotransplant?

Ein Verbund von Belgien, Deutschland, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Slowenien und Ungarn. Die Organisation führt Listen über Patienten, die auf ein Spenderorgan warten und Listen mit Daten gespendeter Organe. Die Vergabe erfolgt systematisch nach Kriterien wie medizinische Dringlichkeit, Erfolgsaussicht, bisherige Wartezeit. Kinder haben immer eine besonders hohe Dringlichkeit. Dazu kommen je nach Organ Kriterien wie Übereinstimmung der Blutgruppe von Spender und Empfänger. Die Daten bekommt Eurotransplant aus den Transplantationszentren. Eurotransplant meldet dann an die DSO die Patienten mit der höchsten Priorität zurück. Die DSO nimmt wieder Kontakt zu den Transplantationszentren auf.

Grünes Licht für die Entnahme: Wie viele Personen sind im Einsatz?

Allein zehn bis zwölf Personen werden im Operationssaal gebraucht. Zwei Entnahmeteams werden von den Transplantationszentren eingeflogen. Aufwendig wird es, weil Organe eine begrenzte Überlebenszeit haben.

Wie viel Zeit ist für ein Herz?

Sechs bis acht Stunden von der Entnahme, bis es in der Brust des Empfängers schlägt.

Wo werden Organe transplantiert, die am Diak entnommen werden?

Das ist unterschiedlich. Transplantationszentren sind in Deutschland weitgehend gleichbedeutend mit Unikliniken, also beispielsweise Tübingen und Heidelberg. Theoretisch kann das im ganzen Verbund von Eurotransplant sein, wenn die Zeit reicht.

Haben Sie einen Organspenderausweis?

Ja, seit rund zwanzig Jahren.

Warum, was sind Ihre Beweggründe?

Wenn ich sterben werde, dann kann ich mit meinen Organen nichts mehr anfangen – ein Lebendiger dagegen sehr viel. Zudem: Falls ich oder jemand, den ich liebe einmal selbst Organe brauchen könnte, dann bin ich sehr dankbar, wenn es genügend Spender gibt. Das ist ein Geben und Nehmen.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die keine Organe spenden wollen?

Täglich sterben in Deutschland Menschen, weil ein Patient kein Organ bekommt. Ich habe ein Problem mit Menschen, die selbst Organe haben möchten, aber keine spenden wollen.

Wie hat sich die Meldequote von Organspenden vom Diak an die DOS entwickelt?

Sie ist in den vergangenen Jahren etwas gestiegen – sowohl die Meldungen an die DSO, also auch die absolute Zahl an Organspenden. Der Hirntod ist eine seltene Todesursache. Am Diak sind es im Schnitt vier Hirntote pro Jahr. Davon gibt es rund zwei Einwilligungen zur Organspende. Pro Organspender werden in Deutschland durchschnittlich 3,3 Organe entnommen. Es können aber auch mehr als fünf sein. Damit ist das Diak im DSO-Ranking oben dabei.

Wie entwickeln sich bundesweit die Zahlen zur Organspende?

Im ersten Halbjahr 2018 gab es 400 Spenden. 2017 waren es 797, im Jahr 2010 noch 1296 Organspender. 10 000 Menschen warten auf Spenden. Die Zahl blieb in den vergangenen fünf Jahren weitgehend konstant.

Worin sehen Sie die Gründe für den Rückgang an Organspenden? Wäre es beispielsweise besser, wenn die von Bundesgesundheitsminister Spahn wieder in die Diskussion gebrachte Widerspruchslösung gelten würde, wodurch jeder als möglicher Spender gilt, der nicht explizit widerspricht?

Ich bin für die Widerspruchslösung, weil sich dadurch jeder mit dem Thema auseinandersetzen muss. Das ist aber nur ein Teil des Problems.

Sehen Sie Fehler in den Strukturen in Krankenhäusern, im System?

Ich würde mehr Geld ins System geben, damit das Thema nicht zum Minus an Krankenhäusern beiträgt, damit mehr Zeit für Freistellungen, für mehr Aufklärung da ist.

Was würden Sie sich wünschen?

Dass das Thema Normalität erfährt und stärker in der Gesellschaft verankert wird. Es gehört in die Familien, in den Biologie-, religions-, und Ethikunterricht an Schulen, in die Berufsausbildung, in die Führerscheinprüfung. Ich war in Schulen. Das Thema trifft dort auf fruchtbaren Boden, wertvolle Diskussionen entstehen, Meinungsbildungen kommen in Gang. Lehrer und Schüler sind wichtige Multiplikatoren, um das Thema weiter aus der Tabuzone herauszuholen.


Seit 1998 als Oberarzt am Diak

Wolfgang Ullrich wurde am 6. November 1961 als Sohn eines Kaufmanns und einer Sekretärin in Stuttgart geboren. Er ist verheiratet mit seiner Frau Karin und hat eine erwachsene Tochter. Er macht Triathlon und taucht gerne. Nach dem Abitur in Stuttgart studierte er Medizin in den Unis Ulm und Tübingen. Seine Doktorarbeit schrieb er an der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg.

Er arbeitete an der Filderklinik und am Katharinenhospital in Stuttgart. Seit 1998 ist er als Oberarzt im Haller Diakonie-Klinikum in der Klinik für Anästhesie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt in der Intensivstation. Dr. Ullrich ist der Transplantationsbeauftragte des Diaks.

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