Artikel aus dem Haller Tagblatt vom 20.11.2018
2017 standen in Deutschland 797 Organspender 10 000 Kranken gegenüber, die auf Rettung warten. Die Diskussion von vier Wissenschaftlern in Hall lässt ahnen, warum das so ist.
Von Beatrice Schnelle
Ab wann wann ist ein Mensch tot? Um diese Frage kreist ein Großteil der vom Verein Hospiz-Dienst Hall initiierten Podiumsdiskussion zum Thema „Organspende – Geschenk oder Pflicht?“ im Adolf-Würth-Saal. Die Fronten sind klar. Ohne dass eine Sitzordnung vorgegeben war, haben im rechten Bühnenbereich die Vertreter der Medizinwissenschaften Platz genommen; links von Marcus Haas, Chefredakteur des Haller Tagblatts und Moderator des Abends, argumentieren die Verfechter des ethikwissenschaftlichen Standpunkts.
„Tod ist mehr als nur der Verlust des Geistes.“ Prof. Dr. med. Giovanni Maio Medizinethiker
Die wechselnden Beifallsbekundungen im voll besetzten Saal beweisen: Auch im Publikum gehen die Meinungen auseinander.
Nachdem er erlebt hatte, wie eine hirntote Schwangere ein gesundes Kind zur Welt brachte, kam der Stuttgarter Kardiologe Paolo Bavastro zu dem Schluss: „Diese Frau kann keine Leiche sein.“ Wolfgang Ullrich, Diak-Transplantationsbeauftragter, enthüllt bei dieser Gelegenheit, dass er die Situation als Stationsarzt der Filderklinik miterlebt habe. Dennoch teilt er keineswegs die Haltung Bavastros, der zudem die „völlig fehlende Aufklärung“, die intransparenten Strukturen des Spendensystems und den moralischen Druck beklagt. Letzteren bezeichnet der Internist und Philosoph Giovanni Maio, der an der Universität Freiburg Medizinethik lehrt, sogar als „Relativierung der Freiheit der Menschen, eine Spende zu verweigern“. Wenn ein Minister Schweigen als ein „Ja“ deuten wolle, irre dieser, plädiert er gegen die von Jens Spahn vorgeschlagene Widerspruchsregelung.
Darum setzte sich seine Organisation dafür ein, dass sich möglichst jeder Bürger informiere und positioniere, betont Axel Rahmel, medizinischer Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Im vergangenen Jahr habe es deutschlandweit 797 Spender gegeben, denen im Durchschnitt 3,5 Organe entnommen worden seien. 10 000 kranke Menschen stünden indes auf der Warteliste für ein Organ, darunter 7000 von insgesamt 90 000 Dialysepatienten. In Spanien erhalte fast jeder, der sie brauche, innerhalb eines Jahres eine Nierentransplantation.
Der Hirntod sei eine seltene Todesursache, erklärt Wolfgang Ullrich auf Nachfrage von Marcus Haas. Im Diak würde diese Diagnose etwa viermal pro Jahr gestellt. Liege keine Willensbekundung der Betroffenen vor und gebe es bei den Angehörigen dies bezüglich keinen Konsens, würde auf eine Organentnahme selbstverständlich verzichtet.
Es handle sich um Schwerstkranke mit einem gravierenden Hirnschaden, relativiert Bavastro. Das Herz funktioniere, beim Mann auch die Erektion, Wunden würden heilen, wenn es sich um Kinder handle, können sie sich normal entwickeln: „Diese Menschen sind nicht tot, darum fehlt die Voraussetzung, überhaupt über Organentnahme zu reden.“
Wie es sich mit dem Schmerzempfinden verhalte, hakt Haas nach. „Medizinisch, biologisch und neurologisch wissen wir es nicht“, lautet die Erwiderung. Doch sobald der Chirurg einen Schnitt an solchen Patienten vornehme, gingen bei diesen nachweislich Blutdruck, Puls und Stresshormone hoch.
Freie Entscheidung respektieren
Hirntote hätten keine Möglichkeit, Reflexe zu unterdrücken, entgegnet Rahmel. Bis die letzte Körperzelle abgestorben sei, vergingen Tage, da sei der Mensch bereits oft beerdigt. Schon immer habe man einen Todeszeitpunkt definieren müssen. Früher sei das der Herztod gewesen, daher rühre der Begriff „Wiederbelebung“. Hingegen gäbe es keinen Fall eines korrekt festgestellten Hirnfunktionsausfalls, der reversibel gewesen wäre. Was aus seiner Sicht den zentralen Bestandteil des „Ichs“ ausmache, nämlich Denken, Bewusstsein und soziale Fähigkeiten, sei unumkehrbar weg. Der Hirntod sei ein von Ärzten, Politikern, Kirchen und Religionen breit akzeptiertes Konzept, betont auch Ullrich. Papst Johannes Paul II. habe die Organspende als höchsten Grad der Nächstenliebe bezeichnet. Jeder Verweigerer müsse im Ernstfall selbst auf ein Spenderorgan verzichten. Lediglich in einem Punkt ist sich die Runde einig: Die freie Entscheidung jedes Bürgers, ob er Spender werden wolle oder nicht, sei unbedingt zu respektieren.
Organspende-Diskussion: Meinungen aus dem Publikum
Evelyn Brucker (85), Mitbegründerin des Haller Hospizdienstes: „Ist es wahr, dass Hirntote vor der Organspende eine Narkose erhalten?“ Nicht in Deutschland, antwortet Axel Rahmel. In der Schweiz würden Anästhetika gegeben, um Gefäßverengungen durch Reflexe zu verhindern, die laut einer Forschungsarbeit den Qualitätsverlust der Organe zur Folge hätten.
„Die Definition, Hirntod ist Tod“ macht mir richtig Angst, sagt Sibylle Ölschläger, „man sollte höchsten Respekt vor Menschen haben, die sich auf den Weg in die geistige Welt gemacht haben.“ Sie vermisse in der Diskussion den spirituellen Gesichtspunkt, meint auch Doris von Busekist, Vorstand im Haller Hospizdienst: „Was passiert mit den Spendern, den Empfängern und den Ärzten, die in das Schicksal eingreifen?“
Ein Vater berichtet von seinem 13-jährigen Sohn, der durch eine Spenderniere wieder ein unbeschwertes Leben genießen könne. Fast weinend weißt eine Frau auf ihre 19-jährige Tochter hin, die nur dank einer Lebertransplantation heute neben ihr sitze.
„Wie sicher ist die Diagnose Hirntod?“, lautet eine Frage. Es gebe ein 60 Seiten umfassendes Richtlinienwerk, das jedes Detail genau festlege, so Rahmel.
„Für mich passen die Begriffe Spende und Widerspruch nicht zusammen“, äußert ein junger Mann, der in seinen Ausführungen auf den 2012 aufgedeckten Organhandel-Skandal in Deutschland anspielt.
Auf die Frage, bis zu welchem Alter man als Spender infrage komme, antwortet Rahmel: “Das kommt darauf an, wie pfleglich jemand mit seinen Organen umgeht.“ Eine Nierenspenderin in Deutschland sei 90 Jahre alt gewesen. Bei Herz und Lunge seien die Spender aber nur in Einzelfällen älter als 65 Jahre. cito