Konfrontation mit dem eigenen Sterben

Aus: Haller Tagblatt vom 30. August 2024. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verlages.


Engagement In ihren 20 Jahren beim Haller Hospiz-Dienst hat Anna-Gela Henkel-Kochendörfer erkannt: Was wirklich wichtig ist im Leben, sieht man erst im Angesicht des Todes. Von Beatrice Schnelle

Anna-Gela Henkel-Kochendörfer war als Koordinatorin und Einsatzleiterin 20 Jahre lang prägend für die Arbeit des Hospiz-Dienstes Schwäbisch Hall. Jetzt ist sie in den Ruhestand gegangen. Im Interview spricht die 64-Jährige über die Themen, die trotz oder wegen ihrer Allgegenwart in unserer Gesellschaft tabuisiert werden: Sterben, Tod und Trauer.

Frau Henkel-Kochendörfer, welsches war Ihre erste Begegnung mit dem Tod?

Anna-Gela Henkel-Kochendörfer: Als mein Vater an Krebs starb. Das war tatsächlich meine erste Begegnung mit dem Tod. Da war ich 38 Jahre alt. Sterben war nie ein Gesprächsthema in meiner Familie. Als mein Vater dann ins Diak kam, war ich überfordert und konnte nicht so recht mit der Situation umgehen.

Was hat Sie zum Hospiz-Dienst geführt?

Nach dem Tod meines Vaters habe ich sehr viele Bücher zum Thema Sterben gelesen. Elisabeth Kübler-Ross natürlich. Ken Wilber, ein amerikanischer Philosoph, der seine Frau in jungen Jahren verloren hat, Professor Christoph Student, der im stationären Hospiz in Stuttgart gewirkt hat und später auch für einen Vortrag zu uns nach Hall kam. Ich habe die Lektüre regelrecht verschlungen. Damals war es ja noch eine gängige Meinung, an seiner Krankheit sei jeder selbst schuld, da gäbe es eine psychische Vorgeschichte. Mir wurde recht schnell klar, dass dies nicht so ist und diese Vorstellung den Patienten nur unter Druck setzt. Wenige Jahre später starb meine Mutter. Danach beschloss ich, dass ich gerne ehrenamtlich im Hospizdienst mitarbeiten möchte, und habe mich bei den damaligen Gründerfrauen beworben. Ich musste aber noch ein Jahr lang warten, da ich selbst noch in der Trauerphase war.

Sie waren also zuerst ehrenamtlich im Verein tätig?

Anfangs im Ehrenamt, ab 2004 dann hauptberuflich. Die damalige Geschäftsführerin Frau Langensieben hatte ihre Arbeit beendet und es wurde eine Nachfolge gesucht. Meine damalige Kollegin Helga Strake-Eitmann und ich haben die Aufgabe als Koordinatorinnen übernommen. Die Geschäftsführung wurde vom dreiköpfigen Vorstand ersetzt. Wir hatten den Wunsch nach Gleichberechtigung auf einer Ebene, die dem Hospizgedanken ja sehr nahe liegt. Das war das Besondere in diesen 20 Jahren, in denen ich hier berufstätig war. Es gibt keine Hierarchien in dem Sinne. Wir haben immer auf Augenhöhe diskutiert, über alle Dinge, die zu entscheiden waren. Es war wirklich außergewöhnlich.

Welche Voraussetzungen müssen Menschen erfüllen, die ehrenamtlich in der Sterbebegleitung tätig werden wollen?

Wenn jemand kommt und möchte hier gerne dabei sein, dann darf sie oder er das tun. Die Erstgespräche, die früher geführt wurden, haben wir fallen gelassen. Wir möchten die Menschen wirklich kennenlernen. Darum besuchen sie bei uns ein Jahr lang einen Kurs. Das ist für uns wertvoller und authentischer, als nach einem kurzen Gespräch zu entscheiden, ob jemand geeignet ist oder nicht.

Was passiert bei so einem Kurs?

Da stellt zum Beispiel ein Bestatter seine Arbeit vor, ebenso ein Palliativmediziner, damit sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein Bild davon machen können, welche Professionen am Lebensende hinzugezogen werden können und was deren Aufgabe ist. Auch eine dreitägige Hospitation in einem Krankenhaus oder bei einem ambulanten Pflegedienst gehört dazu. Ganz wichtig ist die Selbsterfahrung, immer wieder. So wird beispielsweise darüber reflektiert: Wie habe ich persönlich Sterben, Tod und Trauer erlebt? Warum möchte ich im Hospizdienst tätig werden? So kann man sich immer noch einmal anders entscheiden. Natürlich befassen wir uns auch damit, wie wir auf die Klienten eingehen können, etwa mit der Methode der Idiolektik. Dabei lässt man sich auf die individuellen Sprachmuster und die Sicht des Gegenübers ein. Das kann Erstaunliches bewirken.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Einmal habe ich einen Erstbesuch bei einer jungen Frau gemacht, die im Krankenhaus lag und durch ihre Krebserkrankung bereits stark in ihrer Bewegungsfähigkeit eingeschränkt war. Als ich sie nach ihren Vorlieben fragte, sprach sie über ihren Garten und wie wichtig ihr die Natur ist. Sie erzählte, wie sie immer auf den Weiterweg gegangen sei, wenn sie Sorgen hatte. Dieser Wanderweg bei Gschwend ist eine ganz besondere Mischung aus Naturerlebnis, Kunstpfad und Besinnungsweg. Ich sagte ihr, dass auch ich diesen Weg kenne und fragte, was sie davon halten würde, wenn wir gemeinsam die Wegstationen durchgehen. Das haben wir dann auch gemacht. Am Ende sagte sie mir: Jetzt weiß ich, wie ich dort hin komme, auch wenn ich nicht mehr laufen kann. Der Schweizer Allgemeinmediziner, der uns diese Art der Kommunikation vermittelt hat, sagte einmal: Wenn so etwas passiert, betreten wir heiliges Land. Und so fühlt sich das auch an. Es wurde nicht über die Krankheit gesprochen, sondern sie konnte wieder an einen Ort gehen, der ihr Kraft gegeben hat. Es ist ja häufig so, dass die Krankheit im Mittelpunkt steht, um den sich alles dreht.

Versuchen Sie, Gespräche über die Krankheit zu umgehen?

Es sei denn, der oder die Betreffende kommt immer wieder von sich aus darauf zurück. Dann ist das Bedürfnis eben da.

Welches sind die häufigsten Gründe, aus denen jemand ein Ehrenamt im Hospizdienst ausüben möchte?

Eigene Erfahrungen mit Sterben und Tod in der Verwandtschaft, im Freundes- oder im Bekanntenkreis, die negativ oder positiv gewesen sein können. Waren sie negativer Art, besteht oft ein Bedürfnis, etwas anders und besser zu machen. Wenn sie positiver Art waren, wollen die Betreffenden das gerne weitergeben. Aber ganz abgesehen davon, handelt es sich um ein wirklich sinnstiftendes Ehrenamt, bei dem man sich intensiv mit dem Leben auseinandersetzt. Die Konfrontation mit dem eigenen Sterben ist immer da. Da wird mir bewusst, dass ich mein Leben leben darf und besser nicht daran vorbei leben darf.

Ist das Ehrenamt eine enorme Belastung?

Ich kann mir vorstellen, dass eine sterbende Person sehr traurig oder auch wütend sein kann. Jeder hat seine guten Gründe, warum er so ist, wie er ist. Wir wissen nicht um die Geschichte unserer Klienten, das ist unser Vorzug. Wir nehmen den Menschen wahr, wie er im Moment ist. So fällt es viel leichter, wertfrei zu reagieren. Das kann ein Angehöriger nicht. Manchmal wird auch ein Sterbender ungerecht. Diesen Gedanken, man könnte am Lebensende noch alle persönlichen Schwierigkeiten lösen, halte ich für eher unwahrscheinlich. Weil es eine Krisensituation ist, in der Probleme eher hochkochen. Andererseits wird auch deutlich, was wirklich wichtig gewesen wäre im Leben. Ich glaube, das kann man nur im Angesicht des Todes wirklich sehen.

Viele Menschen wissen nicht, wie sie mit anderen Menschen umgehen sollen, die einen nahen Angehörigen verloren haben. Was würden sie denen raten?

Man sollte nicht von den eigenen Verlusten erzählen, um vermeintlich Trost zu spenden. Das passiert häufig, das habe ich auch selber erlebt und gedacht: Das möchte ich jetzt gar nicht hören. Es nimmt dem Anderen den Raum für seine Trauer, den er vielleicht gerade braucht. Und den sollte man ihm lassen. Wir Menschen neigen zu so einem Verhalten. Wenn jemand von seinen Problemen erzählt, fangen wir an von unseren Problemen zu erzählen, die wir für vergleichbar halten. Das sollte man dann an sich vorbeiziehen lassen und sich klarmachen: Jetzt ist der andere dran. Besser einfach in den Arm nehmen, wenn sie der Mensch sind, der so etwas gerne tut und sagen: Ich sehe wie betroffen Sie sind, das tut mir so leid. Den Verlust einfach auszuklammern, ist eher nicht angebracht.

Ist der Tod für Sie durch Ihre Arbeit zum Mittelpunkt Ihres Lebens geworden?

Nicht der Tod an sich, sondern das leben in unserem Verein. Eine bessere Arbeitsstelle hätte ich mir nicht vorstellen können. Hier gibt es so viel Empathie. Meine Kollegin aus der Pflege und ich aus der Sozialpädagogik haben uns wunderbar ergänzt. Man hat mich auch hin und wieder gebremst, aber das war gut so, weil ich einfach vor Ideen platze, vor allem hinsichtlich unserer Öffentlichkeitsarbeit. Es war immer ein Miteinander auf einer Ebene und nie so ein Umgang von oben runter.

Werden Sie weiter ehrenamtlich für den Hospizdienst arbeiten, Frau Henkel-Kochendörfer?

Ich werde mich weiter im Kreisseniorenrat engagieren. Im Hospiz-Dienst werde ich noch ein paar Stunden im Monat helfen. Aber ich möchte jetzt gerne mal einfach auf Reisen gehen.


An der Gründung des Vereins beteiligt

Anna-Gela Henkel-Kochendörfer wurde 1960 im hessischen Lampertheim geboren. Die Liebe führte sie als 23-Jährige nach Schwäbisch Hall. Nach ihrer Ausbildung zur Erzieherin in Heilbronn und Öhringen war sie viele Jahre für ihre beiden Söhne und ihre Tochter da. Danach arbeitete sie zunächst im Kindergarten. 2002 bewarb sie sich beim Haller Hospiz-Dienst, der damals noch unter dem Dach des Vereins zur Förderung seelischer Gesundheit agierte. An der Gründung des Vereins Hospiz-Dienst Hall 2003 war sie bereits beteiligt.

2004 übernahm sie gemeinsam mit Helga Strake-Eitmann die Koordination und Einsatzleitung des ehrenamtlichen Mitarbeiterteams. Ab 2009 erarbeitete sie zusammen mit Ute Ebner-Höll und dem Vorstand eine neue Konzeption für die Hospizarbeit, engagierte sich unter anderem stark in der Öffentlichkeitsarbeit und brachte zahlreiche Kooperationen, zusätzliche Angebote und Vortragsveranstaltungen auf den Weg. Nachfolgerin von Anna-Gela Henkel-Kochendörfer an der Seite von Ute Ebner-Höll ist die Crailsheimerin Meike Schmidt. Aktuell sind mehr als 60 Ehrenamtliche Sterbebegleiterinnen und Sterbebegleiter für den Verein tätig.

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