„Ich glaube, was vom Menschen bleibt, ist Energie“

Interview mit Wilhelm Schmidt

Tod und dann nichts? In seinem neuen Buch sucht der Philosoph Antworten auf die große Frage der Menschheit. Ein Gespräch über Botschaften seiner verstorbenen Frau, was ihn tröstet und ob Unsterblichkeit erstrebenswert ist. 

Von Jan Draeger

Die Erinnerungen sollen bleiben. Neben der Tür: die orangefarbenen Sandalen. Ihr Zimmer: noch so eingerichtet wie zu ihren Lebzeiten. Und die Fotos von ihr, auf dem Tisch und im Regal. „Viele Leute finden, ich muss loslassen. Den Teufel muss ich“, sagt Wilhelm Schmid beim Gespräch in seiner Berliner Wohnung. Vor drei Jahren starb seine Frau Astrid. Doch verschwunden ist sie nicht aus seinem Leben glaubt der renommierte Philosoph und Bestsellerautor. In seinem neuen Buch „Den Tod überleben“ geht er auf die Suche nach dem, was vom Menschen bleibt.

Herr Schmid, Sie schreiben, dass der Tod „für viele einfach kein Thema ist“. Nun haben Sie sich trotzdem an ein Buch über den Tod gewagt und das ist ein Bestseller geworden. Wie erklären Sie sich das?

Die Zeiten haben sich geändert. Die Krisen und Kriege bringen mittlerweile viele Menschen zum Nachdenken darüber, dass zum Leben auch Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit gehören.

Aber das eigene Leben als Kommen und Gehen, als Kreislauf zu verstehen – scheuen das die Menschen nicht eher?

Das Thema rückt auch aufgrund der Demografie näher. Es wird mehr gestorben. Was bedeutet, dass sich mehr Menschen mit dem Tod befassen. Aber mehr als die Hälfte der Bevölkerung gehört keiner Religionsgemeinschaft mehr an. Deshalb gibt es eine große Ratlosigkeit, wenn es ans Sterben geht. In einer Religion gibt es Rituale, die man übernehmen kann. Doch was machen Menschen, die darauf nicht mehr setzen, sich aber fragen: 

Tod und dann nichts – wie soll das gehen? Wo ist dieses Nichts?

Und?

Ich bin der Auffassung, dass das, was von einem Menschen bleibt, seine Energie ist. Das deckt sich mit den Erfahrungen aller, die Menschen, die ihnen nahestehen, in den Tod begleitet haben. Aber diese „säkulare Transzendenz“ ist ein Phänomen, das bisher kaum verbalisiert werden konnte. In meinem Buch will ich dafür eine Sprache anbieten.

In diesem Buch mit dem Titel „Den Tod überleben“ schildern Sie auch Ihre eigene Trauer. Denn vor drei Jahren starb Ihre Frau an Speiseröhrenkrebs. Wie hat das Ihr Denken über den Tod verändert?

Ich hatte immer große Angst. Vor allem davor, dass ich meine Frau zurücklassen muss. Ich bin zehn Jahre älter als sie, da war die Abfolge klar. Nun ist genau das Gegenteil der Fall. Und mittlerweile glaube ich, dass, wenn ich mal sterben werde, in Empfang genommen werde. Sie wird da sein.

Dabei sagen Sie von sich selbst: „Ich bin Philosoph, der stets der Nüchternheit wissenschaftlicher Erklärungen den Vorzug gibt.“

Ich spüre da eine doppelte Begrenztheit. Zum einen: Wir kommen an einige Dinge nach gegenwärtigem Stand nicht wissenschaftlich ran. Und zweitens: Wir wissen, was wir wissen, aber wir wissen nicht, was wir alles nicht wissen. Der Bereich des Nichtwissens ist sehr, sehr groß. Wir wissen nicht, woraus 90 Prozent des Kosmos bestehen. Das ist eine Schätzung der Astrophysiker zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Meine Frau und ich haben uns fast 40 Jahre vor ihrem Tod kennengelernt. In unseren ersten halbnächtelangen Gesprächen ging es um Energietheorie. Und dahin sind wir gegen Ende ihres Lebens wieder zurückgekehrt. Insofern hat sich ein Kreis geschlossen.

Sie schreiben von Energien, die nicht mehr im Körper sind, wenn jemand stirbt, aber trotzdem weiterleben. Wo spüren Sie die Energie Ihrer Frau?

In mir und um mich herum. Das Problem ist, dass diese Energie nicht messbar ist. Das ist sie exakt nur bis zum Tod. Durch elektrische Messungen von Elektrokardiogramm und Elektroenzephalogramm. Bis zu dem Zeitpunkt ist nichts strittig. Mit dem Moment des Todes ist diese Energie aber aus dem Körper raus. Und damit zerstreut sie sich. Dann bleibt das Gespür. Über Gespür lässt sich streiten. Aber wenn zahllose Menschen, ohne sich verabredet zu haben, von den gleichen Erfahrungen berichten, nämlich, dass sie diese Energien spüren, dann haben wir zwar keine objektive aber immerhin eine intersubjektive Wahrheit. Das ist schon deutlich mehr als eine subjektive Wahrheit.

Sie sprechen auch von „Botschaften“, die Sie bekommen ...

Als meine Frau starb, saß ich neben ihr am Bett. Ihr Atem setzte aus, ihre Augen brachen und mein Blick fiel auf eine Uhr hinter ihr. Es war 19.19 Uhr. Meine Frau liebte das Spiel mit Zahlen und Daten. Sie hatte zum Beispiel unseren Hochzeitstag auf unseren ersten Liebestag gelegt. Mit der Begründung, dann kannst du dir das besser merken. Deshalb war ich mir auch sicher, dass ihr Sterbezeitpunkt um 19.19 Uhr kein Zufall war. Sie hat das gemacht, damit wir kommunizieren können. Heute Mittag habe ich gerade an sie gedacht und zufällig auf die Uhr geschaut. Es war genau 14.14 Uhr. Kurz bevor sie starb, habe ich sie gefragt: Wie soll ich weiterleben? Sie sagte, dass wir zusammen bleiben. Egal in welcher Aggregatform. Und das ist die andere Aggregatform, diese Energetische mit Botschaften. Es gibt auch sehr deutliche Botschaften, die sich kein Mensch ausdenken kann ...

Sie berichten von einer merkwürdigen Szene am Flughafen ...

Ein Jahr nach ihrem Tod machte ich eine Reise, die ich eigentlich noch mit ihr zusammen unternehmen wollte. Doch die Ärzte hatten damals abgeraten. Nun reiste ich alleine, hatte aber das Gefühl, dass sie dabei war. Im Flughafen ging ich durch die Sicherheitskontrolle und es piepste, obwohl ich alles abgelegt hatte. Der Sicherheitsmann hinter der Schleuse tastete mich ab – und fand nichts. Er sagte zu mir: „Haben Sie vielleicht eine Frau dabei?“ Völlig absurd. Die Kollegin neben ihm erschrak: „Spinnst du? Was stellst du denn für Fragen?“ Er entschuldigte sich. Ich aber zwinkerte ihm zu und dachte mir: Ich bin mit der Energie von zwei Menschen hier durchgegangen.

Gab es bei Ihnen so ein Gefühl von „Hätte ich doch“? Etwas, dem Sie nachtrauern, dass Sie es in dem gemeinsamen Leben mit Ihrer Frau versäumt haben?

Natürlich. Warum habe ich meiner Frau nicht häufiger Blumen geschenkt? Sie mochte das. Wir haben auch den furchtbaren Fehler gemacht, dass wir ihr Sodbrennen nicht ernst genommen haben. Sie hatte das seit ihrer Kindheit. Bestimmte Dinge darf man dann nicht tun, wie rauchen, Alkohol trinken, den Tee sehr heiß trinken. Warum? Bei Sodbrennen kommt Magensäure in der Speiseröhre hoch, und wenn das häufig geschieht, verätzt das die Speiseröhre. Dadurch entsteht eine Entzündung. Wenn eine Entzündung chronisch wird, ist sie das Einfallstor für Krebs. Wir wussten nichts darüber. Von Speiseröhrenkrebs sind ungefähr drei- bis viertausend Menschen im Jahr betroffen. Das ist keine kleine Zahl. Aber natürlich nichts im Vergleich zu Darmkrebs und Brustkrebs, worüber ständig Berichte erscheinen.

Was hat Ihnen Trost gegeben?

Zuallererst die Liebe, die wir zueinander hatten. Wir hatten eine sehr starke, auch eine sehr berührungsstarke Beziehung. Und das war in der schwierigen Zeit nach wie vor der Haupttrost.

Und wie war das nach dem Tod Ihrer Frau?

Das Bewusstsein, dass sie energetisch da ist, tröstet mich. Das kommt unvermittelt und mit einer Heftigkeit, dass ich manchmal dastehe und am ganzen Körper zittere. Deshalb bin ich sicher, dass ich mir das alles nicht einbilde.

Sie haben über Glück, Gelassenheit und die Liebe geschrieben. Bücher, die Denkanstöße geben. Im Mittelpunkt Ihrer Arbeit steht die Lebenskunstphilosophie ...

Ich habe mich aber auch immer schon mit dem Tod befasst. Zur Lebenskunst gehört seit der Antike der Umgang mit dem Tod. Außerdem war ich philosophischer Seelsorger in einem Krankenhaus, wozu auch die Arbeit mit Sterbenden gehörte. Seither frage ich mich, wie kommen Krankenhäuser ohne Philosophen aus? Die Patienten dort haben ein großes Bedürfnis, über ihr Leben zu sprechen. Vor allem natürlich, wenn es zu Ende geht.


Hat Ihnen das Schreiben geholfen, mit der Trauer umzugehen?

Ja, ganz stark. Ich begann mit dem Schreiben ein paar Wochen nach dem Tod meiner Frau. Der Auslöser war auch ein magisches Erlebnis. Meine Kinder und ich hatten beschlossen, meine Frau nicht sofort zu beerdigen. Wir wollten das ganz in Ruhe machen, was sicher im Sinne meiner Frau war, die nie etwas überstürzte. So ging ich nach vier Wochen noch zu dem Beerdigungsinstitut, wo ich in einem Raum eine Stunde lang mit meiner Frau allein verbrachte, die dort im Sarg lag. Es war wunderschön und furchtbar schmerzlich. Genau in dieser Spannweite. Danach fühlte ich mich nicht in der Lage, nach Hause zu gehen. Ich setzte mich schräg gegenüber des Beerdigungsinstituts in eine Gaststätte. Und schlug die Wochenzeitung „Die Zeit“ auf. Mein erster Blick fiel auf einen Artikel mit dem Titel „Stop whining, start writing“ – was heißt: „Hör auf zu heulen, fang an zu schreiben.“ Ich habe es als eine Botschaft aufgefasst.

Liebe und Tod sind untrennbar miteinander verbunden, heißt es in Ihrem Buch.

Letztendlich hat Liebe mit Tod zu tun. Der, der noch bleibt, muss es bewältigen, dass einer aus dem Leben gegangen ist. Und der, der geht, muss es bewältigen, dass einer zurückbleibt. Je größer die Liebe war, desto schmerzlicher ist der Akt.

Wenn jemand todkrank ist, ist es für andere oft schwer, die richtigen Worte zu finden. Haben Sie da einen Rat?

Da bin ich selber immer ratlos. Ich erinnere mich an einen Spaziergang, bei der ich einer Bekannten begegnete, von der ich wusste, dass sie auch Krebs hatte. Was sage ich jetzt? Gute Reise? Oder: Ich hoffe, dass Sie sich noch durchkämpfen. Was völliger Blödsinn ist. Ich habe es einfach überspielt, als wäre nichts. Aber das ist natürlich auch eine blöde Haltung. Ich bin seither nicht klüger geworden.

Nun haben Sie sich so viel mit dem Tod beschäftigt – wenn Sie ihm drei Fragen stellen könnten, welche wären das?

Erstens: Was spielt sich im Augenblick des Todes im Menschen selbst ab? Das hat mich schwer bewegt. Was hat meine Frau noch wahrgenommen? Und zweitens: Wie könnte ihr Zustand nach dem Tod sein? Gibt es ein höheres Bewusstsein, das nicht an Physiologie gebunden ist? Wie kommen diese Zeichen immer zustande? Die setzen ja eigentlich voraus, dass da ein steuerndes Wesen ist. Wenn es nicht blanker Zufall ist, dann muss da was gesteuert werden. Das wüsste ich gern.

Und die dritte Frage?

In welcher Verfassung werde ich meine Frau antreffen, wenn ich wieder zu ihr komme?

Manche träumen von Unsterblichkeit, dass die Medizin eines Tages ein Leben ohne Begrenzung möglich machen könnte. Aber Sie selbst stellen die Frage: Wie fühlt sich ein Leben an, wenn es nicht mehr endet? Konnten Sie eine Antwort finden?

Probiert’s lieber nicht aus. Ich stelle mir immer vor, was für Menschen besonders wertvoll ist. Nämlich das, was nicht unendlich verfügbar ist. Kann man leicht an Gold sehen. Würden wir Kieselsteine zu Gold erklären, dann könnte jeder Mensch genügend Gold haben. Aber was wären die Kieselsteine dann wert? Ich vermute, so ist es auch mit den Tagen und Jahren des Lebens. Die sind so wertvoll, weil sie begrenzt sind. Würden wir 500 oder 1000 Jahre leben – was machen wir dann die ganze Zeit? Es langweilt manche Menschen ja schon, wenn ihr Leben nur 80 oder 100 Jahre währt. Also vermute ich, wenn man es schaffen sollte, unsterblich zu werden, stirbt man vorher vielleicht an Langeweile.


„Lebenskunst“ im Mittelpunkt

Wilhelm Schmid (71) wird in Billenhausen, einem Ortsteil von Krumbach (Bayern), geboren. Der Sohn eines Landwirts macht eine Lehre als Schriftsetzer und geht danach vier Jahre zur Bundeswehr. 1980 holt er sein Abitur nach und studiert Philosophie und Geschichte. 1991 promoviert er und lehrt in den folgenden Jahren an verschiedenen Universitäten. 1997 habilitiert er sich mit der Arbeit „Grundlegung zu einer Arbeit der Lebenskunst“. Lebenskunst wird auch zum Mittelpunkt seiner philosophischen Arbeit. Er veröffentlicht Bücher, die eine breite Leserschaft finden. Aktuell: „Den Tod überleben. Vom Umgang mit dem Unfassbaren“. Schmid ist Vater von vier Kinder und lebt in Berlin.


aus: Haller Tagblatt , Samstag, 1. Juni 2024

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